Wie schreibt man eigentlich diesen Spielbericht. Diese Frage schoss mir in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf. Nicht nur einmal – nein, immer wieder. An der Playa in Mallorca, nachts im Bett oder einfach im Auto, irgendwo auf irgendeiner Fahrt zu irgendeinem Ort. Immer wieder war sie da. Ungefragt. Hartnäckig. Denn was will man auch schreiben, wenn es sich nicht einfach wie ein Spiel anfühlt. Weil es nicht nur das letzte Spiel einer Saison war. Sondern eben das Ende – das Ende einer langen Reise. Das Ende eines Weges, der fast auf den Tag genau vor einem Jahr begonnen hat. Ein Weg, der uns gefordert, geformt und irgendwie auch verbunden hat. Ein Weg, der jetzt an seinem ersten Ziel angekommen ist – am Ende des ersten Kapitels unserer Geschichte.
Damals, vor einem Jahr, als die Vorbereitung begann, war alles offen. Wir waren hungrig, wir waren bereit. Ein Kader, voll mit Talenten aus den eigenen Radolfzeller Reihen. Dazu ein paar alte Bekannte, deren Wege sie zurückgeführt haben – zurück zu ihren Wurzeln, zu ihrem Verein, zu uns. Und es hat gepasst. Von Anfang an. Die Teamchemie war da. Man spürte, dass etwas wachsen kann. Jeder hatte ein gutes Gefühl, auch wenn noch niemand so richtig wusste, was eigentlich in uns steckt. Aber das hat sich schnell gezeigt. Denn was dann kam, war ein Ritt. Schamlos, zielstrebig, mit breiter Brust marschierten wir durch die Liga. Jedes Spiel gewonnen. Keine Gnade, keine Zweifel. Meister – ja, das war das Minimalziel.
Doch uns ging es um mehr. Um Herren Landesliga-Handball in Radolfzell. Endlich wieder. Endlich da, wo wir hingehören. Oder vielleicht noch klarer gesagt: Wir wollten mit unserem Herzensverein erfolgreich sein. Wir wollten Aufstiege feiern. Wir wollten das Ganze wieder zu etwas machen, das über uns hinausgeht. Etwas, das vielleicht auch unsere Stadt wieder ein bisschen mehr mitreißt als Bezirksliga. Weil sie eben unsere Heimat ist – unsere gemeinsame.
Und dann kam dieser Moment. Der Moment, auf den wir alle gewartet haben. Und mit „wir“ meine ich nicht nur uns auf der Platte. Ich meine jeden Einzelnen auf der Tribüne. Familie. Freunde. Alle, die sich Woche für Woche einbringen. Jede Personalie, die beim HSC längst zum Stamminventar gehört. Unsere Damenmannschaft. Unsere Jugendteams. Und ganz viele neue Gesichter, die sich vom Handballsport haben packen lassen. An diesem Samstag machten sich alle auf den Weg in die Halle. Die Unterseehalle. Volles Haus. Eine Kulisse, die mehr als angemessen war für das, was da bevorstand. Ein Spiel, das für viele „nur“ ein Spiel war – aber für uns? Für uns war es eben so viel mehr.
Aber zurück zu diesem Moment. Es war… ja, irgendwie unwirklich. So, als wäre man mitten in einer Szene, die man selbst nicht ganz greifen kann. Das letzte Mal, dass ich in Radolfzell vor so einer Kulisse gespielt habe, war in der D-Jugend – Endspiel um die südbadische Meisterschaft. Vielleicht war es genau das, was es gebraucht hat, um einen Kreis zu schließen, der lange offen geblieben war. Vielleicht hat sich hier etwas verbunden, was schon lange darauf gewartet hat, wieder eins zu sein.
Und so gingen wir ins Spiel. Pünktlich um 19:00 Uhr schallte der Anpfiff des Schiedsrichtergespanns um Oliver Muttach und Nick Schillinger durch die Unterseehalle. Das Spiel war eröffnet – das, worauf wir so lange hingearbeitet hatten, nahm genau in diesem Moment seinen Lauf. Wie es losging? Wild. Ohne Einleitung. Ohne Abtasten. Ohne Pardon. Nach gerade einmal 37 Sekunden fasste sich Tobias Rupp von den Gästen ein wenig zu beherzt an seinen Gegenspieler – erste Zeitstrafe. So früh, so deutlich. Die Halle war sofort da. Logische Konsequenz: Strafwurf. Und an den Strich trat niemand Geringeres als Ole Osann. Und was soll ich dazu sagen? Ein Siebenmeter von Ole ist kein Wurf. Es ist Kunst. Kein Zweifel, kein Zucken, keine Sekunde zu viel – einfach dieser eine fließende Bewegungsablauf, der irgendwo zwischen Präzision und Eleganz schwebt. Wenn Leonardo da Vinci Handball gemalt hätte – es wäre genau dieser Wurf gewesen. 1:0 für uns. Erste Führung an diesem Abend. Die Halle tobte. Wir waren da. Von Sekunde eins an.
Was danach folgte, war ein Schlagabtausch der besonderen Art. Ein offener Fight, ein Handballspiel auf hohem Tempo – getrieben von Emotion, getragen von dieser Halle, in der keine Sekunde Stillstand war. Jeder Treffer wurde bejubelt, jeder Gegentreffer kommentiert, jede Entscheidung der Schiedsrichter analysiert – lautstark, versteht sich.
Fynn Osann brachte sich früh mit ein, tankte sich durch wie ein Bulldozer mit feinem Handgelenk, ließ sich weder von Klammern noch Kommentaren beeindrucken. Dann wieder Yannik Franz – flink, wach, immer da, wo man ihn braucht. Auf der Gegenseite: wie könnte es anders sein – Jan Billner. Schon im Hinspiel kaum zu halten, stellte er uns auch an diesem Abend erneut vor riesige Aufgaben. Jeder Wurf von ihm hatte Gewicht, hatte Timing, hatte diese gewisse Entschlossenheit, die man nicht verteidigen kann, wenn sie erstmal im Flow ist.
Und so ging es hin und her. Kaum war der Ball im einen Netz, zappelte er Sekunden später auf der anderen Seite. Die erste Viertelstunde war kein Handballspiel – sie war ein Rausch. Ein Rausch, aus dem man gar nicht erst wieder aufwachen wollte.
Zwischenzeitlich erspielten wir uns kleine Vorteile. Ein schöner Treffer von Martin Denecke, ein Durchbruch von Fynn, ein sicher verwandelter Siebenmeter von – wie sollte es anders sein – Ole Osann, der in dieser Phase bereits seinen ganz eigenen Film spielte. Ball nehmen, durchatmen, versenken. Routine, als wäre’s Training.
Doch auch die HSG aus Stuttgart war wach. Und so blieb es eng. 20 Tore in der ersten Halbzeit für die Gäste, 19 für uns. Zur Pause lagen wir mit 19:20 zurück – ein Spielstand, der auf dem Papier nach offener Partie klingt, aber sich für uns im Bauch schwerer anfühlte, als er war. Denn da war das Gefühl, dass wir mehr könnten. Mehr Zugriff. Mehr Konzentration. Mehr Konsequenz. Aber noch war nichts verloren. Ganz im Gegenteil. Es war alles offen. Wir hatten noch 30 Minuten Zeit, um zu zeigen, wer wir sind. Und das taten wir.
Was Coach Radon in der Kabine zu sagen hatte? Nicht viel. Er ließ uns erstmal etwas durchschnaufen. Die Hitze in der Halle drückte. Die Köpfe wurden schwerer. Er forderte ein letztes Mal nochmal vollen Einsatz. Nochmal alles reinwerfen. Er erinnerte uns daran, dass zwischen uns und dem Aufstieg nur noch 30 Minuten liegen würden.
Und so ging’s weiter – zweite Halbzeit, neues Feuer. Die Pause war vorbei, aber das Spiel brannte noch immer lichterloh. Kaum waren wir wieder auf der Platte, war das Tempo sofort wieder oben. Der Puls? Genauso. Die Halle? Unverändert laut. Fynn Osann eröffnete die Halbzeit mit einem herrlich entschlossenen Treffer – einfach durchgezogen, kein Kompromiss. Doch wer dachte, wir könnten jetzt gleich die Kontrolle übernehmen, wurde eines Besseren belehrt. Die HSG blieb dran. Stuttgart biss. Stuttgart kratzte. Stuttgart schien zu wissen, dass wir zu knacken sind, wenn man uns nicht atmen lässt.
Es ging weiter wie in Halbzeit eins – jeder Treffer ein Treffer zu viel, jeder vergebene Angriff ein Stich ins eigene Selbstvertrauen. Aber wir hielten dagegen. Mit Klasse. Mit Tempo. Mit Spielern, die sich in dieses Spiel hineinwarfen, als hinge alles davon ab. Emil Franz traf in dieser Phase ebenso eiskalt wie Sebastian Hecht, der immer wieder da war, wenn man ihn brauchte. Und dann war da natürlich wieder – na klar – Ole Osann.
Zehnmal trat er in diesem Spiel an den Siebenmeterstrich. Zehnmal nahm er sich den Ball, stellte sich der Verantwortung, zehnmal ließ er sich vom Lärm, vom Druck, von der Bedeutung des Moments nicht beeindrucken. Und zehnmal verwandelte er. Jeden einzelnen. Kein Zittern, kein Zaudern. Nur Ziel, Schritt, Wurf – drin.
Doch trotz all unserer Treffer – wir bekamen den Laden hinten nicht dicht. Billner? Immer noch ein Problem. Kowalke? Auch. Schirm? Plötzlich gefährlich. Die Gäste schafften es immer wieder, in unsere Lücken zu stoßen, schlossen schnell ab, machten einfache Tore.
50. Minute – 35:38. Drei Tore hinten. Die Halle? Kurz gedämpft. Die Stimmung? Knisternd, irgendwie geladen. Und ich? Ich stand da – und wusste, dass jetzt irgendwas passieren muss. Nicht von jemand anderem. Von mir.
Also probierte ich Dinge, die ich sonst eher sein ließ. Bewegungen, die im Training längst sitzen, im Spiel aber selten rauskommen. Weil sie riskant sind. Weil man sich damit aus dem Fenster lehnt. Aber in dem Moment war mir das egal. Ich zog’s durch – und es funktionierte. Was ich hinten verhindern konnte, wurde vorne direkt in Zählbares umgewandelt. Wir nutzten den Moment. Punkt.
Ole Osann machte den Anfang – wie so oft. Konzentriert, klar, abgeklärt. Kein Spektakel, einfach drin. Dann Yannik Franz, mit genau der Mischung aus Ruhe und Wucht, die man in so einer Phase braucht – aus vollem Lauf, unter Bedrängnis, trotzdem souverän – drin. Und dann Mathis Rau. Unser Kapitän. Kein langes Zögern, kein Blick zurück. Einfach durch. Einfach drin. 40:40.
Die Halle tobte. Die Mannschaft lebte. Und ich hinten drin wusste: Jetzt ist alles wieder möglich.
Die HSG ließ sich nicht abschütteln. Immer wieder fanden sie einen Weg – mal über Billner, mal über die Halben. Sie gingen wieder in Führung. 40:41. Dann gleichen wir aus. 41:41. Sie legen wieder vor. 41:42. Dann wieder Ausgleich.
42:42. Noch zehn Sekunden auf der Uhr. Die Halle tobt. Die Köpfe rauchen. Und ich stehe da, auf der Linie – bereit für den letzten Siebenmeter der Partie.
Innerlich wusste ich: Das hier wird schwer. Keine große Parade mehr. Wenn ich daneben springe, geht mir die Zeit aus. Wenn ich zögere, ist er drin. Ich entscheide mich für eine Seite. Die falsche. Der Ball hoppelt halbhoch ins andere Eck – drin. Aber keine Zeit für Ärger. Keine Zeit für Nachdenken.
Ich bin sofort am Ball, fische ihn aus dem Netz, ein kurzer Schritt zurück und dann werfe ich ihn – zielgenau auf Moritz. Anpfiff. Noch sieben Sekunden. Moritz nimmt den Ball an, passt ihn direkt zu Ole, und Ole – mit diesem perfekten Gefühl für den Moment – steckt ihn durch. Kein großes Zögern. Kein zweiter Gedanke. Ein Steckpass in die Lücke, auf den durchstartenden Moritz Knura. Noch drei Sekunden. Moritz nimmt den Ball, ein Schritt, kein perfekter Winkel – aber das ist jetzt egal. Er zieht ab. Der Ball fliegt. Er senkt sich. Netz wackelt. 43:43.
Und in diesem Moment, in dieser letzten Sekunde, steht alles still – nur für einen Herzschlag lang. Dann: die Halle explodiert. Die Schiedsrichter pfeifen ab. Die Bank rennt aufs Feld. Alle stürzen sich auf Moritz.
Und ich? Ich bleibe hinten kurz stehen, schaue zu ihm rüber – und denke nur: Wenn es ein letztes Spiel gibt, das du nie vergisst – dann war es genau das hier. Ein Tor in der letzten Sekunde. Ein Ausgleich wie ein Sieg. Ein Abschied wie aus einem Märchen.
Was bleibt, nach so einem Spiel? Nach so einer Saison? Ein Ergebnis? Ein Tabellenplatz? Eine Statistik? Vielleicht. Aber vor allem bleiben Erinnerungen. An das erste Training letzten Sommer. An schwitzende Körper in stickigen Hallen. An jeden Sprint, jeden Wurf, jedes Wort. An Siegesserien, an Rückschläge. An Momente, in denen du wusstest: Das hier ist größer als du selbst.
Wir sind im letzten Jahr als Mannschaft gewachsen – nicht nur handballerisch, sondern auch menschlich. Ein Kader, der sich gefunden hat. Zwischen alten Weggefährten und neuen Gesichtern. Zwischen Jugend und Erfahrung. Zwischen Blödsinn und blindem Vertrauen.
Wir haben 20 Spiele in der Bezirksoberliga gewonnen – jedes einzelne. Wir haben die Meisterschaft gefeiert. Wir haben die Relegation angenommen – als neue Herausforderung. Und wir haben sie gemeinsam bestanden. Nicht weil alles perfekt lief. Sondern weil wir nie aufgehört haben, an uns zu glauben.
Und dann war da dieses letzte Spiel. Diese Schlussminute. Dieser letzte Pass. Dieses letzte Tor. Und ausgerechnet Moritz Knura, der Mann, der seine Schuhe nun an den Nagel hängt, setzt in der allerletzten Sekunde den vielleicht größten Schlusspunkt dieser Saison. Ein Abschied, wie ihn keiner schöner schreiben könnte. Ein letzter Moment – und dann: Stille. Respekt. Gänsehaut.
Aber er war nicht der Einzige, der in diesem Jahr das letzte Kapitel aufschlug. Auch Mika Rau, unser Antreiber, unser Taktgeber immer mit Blick für den freien Mitspieler, immer mit 120 Prozent, auch wenn’s weh tat.
Auch Tillmann Schön, ruhig, verlässlich, unaufgeregt aber immer da, wenn’s zählt. Einer, auf den du dich blind verlassen konntest.
Und auch Linus Vögele – der Name ist Programm. Ein feines Händchen, ein gutes Auge, und vor allem: ein Typ, den du einfach gern im Team hast. Einer, der für diesen Verein gebrannt hat – und es immer tun wird. Vier Persönlichkeiten. Vier Abschiede. Und jede einzelne dieser Geschichten hat Spuren hinterlassen. Nicht nur auf dem Spielberichtsbogen, sondern in unseren Köpfen. Und vor allem: in unseren Herzen.
Ihr vier habt das mitgeprägt, was diese Saison so besonders gemacht hat. Und wenn wir zurückblicken, dann nicht nur auf Spiele, sondern auf gemeinsame Abende, auf Umkleidekabinen-Gelaber, auf Auswärtsfahrten, die man nicht vergisst. Auf Freundschaft. Auf Mannschaft. Danke, Männer. Für euren Einsatz. Für euer Herz. Für eure Zeit.
Was jetzt kommt? Landesliga. Ein neues Kapitel. Ein neues Level. Aber das Buch? Das schreiben wir gemeinsam weiter. Mit Herz. Mit Stolz. Mit Radolfzell auf der Brust. Danke für diese Saison. Wir sehen uns in der Unterseehalle.
Ein besonderer Dank gilt der HSG Oberer Neckar – für zwei intensive aber stets faire Relegationsspiele auf Augenhöhe. So muss Handball sein.
Und natürlich: Danke an euch – unsere Fans. Ihr wart immer da. Laut, treu, reisefreudig, grenzenlos. Ohne euch wäre das alles nur halb so schön gewesen. Wir haben euch im Rücken gespürt. Und wir freuen uns auf alles, was noch kommt.
Louis Ruf